Philosphie


Keramik: Materie und Geist
Das Gestalten von Gegenständen aus Ton und ihre Verfestigung im Feuer entspricht der technischen Verfügung über einen Teil der Natur, wie sie von den Naturwissenschaften bearbeitet wird. Von der Geologie bis zur Thermodynamik liegt diese Verbindung auf der Hand. Sobald es jedoch um künstlerische Ansprüche geht, treten gestalterische Interessen in den Vordergrund, die in den Geisteswissenschaften begründet sind. Das um so mehr, je mehr die Keramik zur Kunst wird, das heißt, wenn der Sinn frei bleibt und der Zweck nicht mehr der Nutzen ist.
In diesem Beitrag geht es um die unterschiedlichen Beziehungen der Keramik zu den Natur- und Geisteswissenschaften.
Ein Situationsbericht, der auf die unterschiedlichen Beziehungen der Keramik zu den Natur- und Geisteswissenschaften abzielt
In unserer Zeit, in der sich unsere Lebenswelt stärker verändert als je zuvor, verändert sich die Keramik, die dabei geblieben ist, Werke aus Ton schöpferisch zu gestalten, ganz anders als die technische Keramik.
Die Töpferei, die ursprünglich nur darauf gerichtet war, dem natürlichen Material eine Form zu geben, geriet als angewandte handwerkliche Kunst in eine dekorative Funktion, wobei sich die Freiheit des Machens unerhört steigerte. Die Hochleistungen der japanischen Töpferkunst zeigten jedoch, dass die Keramik nicht nur eine Kunst zu sein braucht, die auf etwas anderes angewandt wird, sondern dass sie, auf sich selbst besonnen, mehr leisten kann.
Das gleiche bewies noch erfolgreicher die traditionslose Keramik amerikanischer Künstler.
So unterliegt die europäische Keramik unterschiedlichen Einflüssen. Auf der einen Seite kommen diese aus dem japanischen Handwerk, also aus Anfängen und aufgestauten Erfahrungen, die sich von unten, aus den Tiefen der Tradition, zu Höchstleistungen empor entwickelten, auf der anderen Seite kommen die Einflüsse aus den Kunstakademien der Westküste der USA, also gewissermaßen von oben herab bis hinunter zu einer weit verbreiteten Trivialkeramik.
Diese Mischung aus Handwerk und Kunstbeflissenheit ist in Europa nicht neu. Jetzt aber klaffen die Unterschiede, durch ansteckende Vorbilder verschärft, weit auseinander, und die Situation wird nicht mehr als eigene Entwicklung, sondern als von außen kommend empfunden.
Der japanische Einfluss zeigt sich nicht so sehr darin, ob jemand an der Töpferscheibe arbeitet, sondern er zeigt sich vielmehr in einer Keramik, die durch Unvollkommenheit ihr innerstes Wesen, nämlich ihre Natur, offenbart. Diese Richtung steht im Gegensatz zu dem in Europa verbreiteten Streben nach Vollkommenheit, das durch den amerikanischen Einfluss, der nach Intellektualisierung verlangt, noch verstärkt wird.
Das Tempo der Zivilisation mit ihrer rationalen Dynamik steht einer Kultur entgegen, die auf einer verinnerlichten Spiritualität beruht. So unterliegt diese Richtung dem Schicksal des Handwerks, selbst wenn sie bis zu den Gipfeln der Kunst vorgedrungen ist.
Ihre geringere Verbreitung mag an den höheren Anforderungen an technologischem Wissen und Können sowie an technischen Einrichtungen liegen, hat aber gewiss auch volkswirtschaftliche und private Ursachen.
Die traditionellen Handfertigkeiten, die Beziehungen zur Natur und die Beachtung der Materialgerechtigkeit nehmen einen geringeren Rang ein als Kreativität, Originalität und Spontaneität. Die Natur tritt dem Keramiker in der westlichen Zivilisation kaum mehr natürlich entgegen, sondern vorgeformt durch menschliche Arbeit.
Die Natur verzaubert ihn zwar, aber das Material, mit dem er zu tun hat, erfährt er jetzt als ein Produkt der vom Menschen bearbeiteten Welt, in der er lebt. Hinter dem Künstlichen ist die Natur nahezu verschwunden, und das spezifisch Keramische ist nur mehr die Natur der Sache.
Das ist nun mal der Gang der Zivilisation. Die meisten Menschen glauben, dass dabei der Individualismus zunehme. Es heißt aber nur, dass die Menschen stärker auf sich selbst zurückgeworfen werden, nicht aber dass sie individueller, also voneinander verschiedener würden. Das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen werden durch die Zivilisiertheit stärker auf einen Nenner gebracht; der Typus eines Normalverhaltens breitet sich aus. Durch überraschende, aus dem Rahmen fallende Originalität versuchen sie, aus einer Nische der Gesellschaft in die öffentliche Aufmerksamkeit zu treten.
Die westliche Zivilisation schreitet als Kettenreaktion fort und nimmt an Intensität und Reichweite zu. Dabei verliert die Naturverbundenheit an Zugkraft gegenüber der persönlichen künstlerischen Entwicklung.
Die Naturwissenschaften verlieren an Bedeutung gegenüber den Geisteswissenschaften. Die Materie wird zum Geist mit vieldeutigen Sinnschichten. Die Keramik öffnet sich zur Philosophie.
Aber das Wissen ist in der Philosophie das Wissen darüber, wie etwas ist, in der Keramik dagegen das Wissen, wie etwas geht.
Dieses Bewirkungswissen reicht in das vorwissenschaftliche Wissen zurück und genügt dem Töpfer, der sich praktisch bewähren muss. Hingegen schlägt sich das, was der Keramiker aus der Welt des Geistes für seine Persönlichkeit gewinnt, in seiner künstlerischen Verarbeitung nieder.
Dabei ist es jetzt für ihn wichtig, zu einer Ästhetik zu finden, die, obwohl sie aus dem traditionellen Handwerk kommt, in der globalen Kunstsprache nicht nur als Malerei auf Keramikgrund akzeptiert wird. Vielmehr werden die Arbeiten aus Ton zu Zeugnissen eines objektivierten Geistes, wie es der Marburger Philosoph Nikolai Hartmann in seinem Buch "Das Problem des geistigen Seins"(1932) beschrieb.
In der künstlerischen Gestaltung tritt der Sinn als Mitteilung an den Empfänger hervor. Im Vergleich zur Philosophie hat die Kunst einen größeren Abstand vom Lebensernst sogar bis zu ihrer Auffassung als Spiel.
Und im Vergleich zu jener Technik, die sich von Erde und Feuer fortentwickelt hat, ist die künstlerische Gestaltung eine andere Art von objektiviertem Geist, nämlich ein geistig-philosophisches Schöpfertum.
Man kann auch sagen, dass die Technik ihre Erfolge aus dem Wissen erzielt, die Kunst hingegen aus der Reflexion des Unverstandenen, die in vorwissenschaftlicher Zeit beginnt und sich zum Teil in außerwissenschaftlichen Bekenntnissen fortsetzt.
Man meint immer, Ursache und Wirkung, also die Kausalität, sei ein fraglos geltendes Gesetz. Aristoteles hat in der von ihm geprägten metaphysischen Tradition viererlei Ursachen von Wirkungen aufgezählt und darunter der vierten Ursache, der Zielursächlichkeit causa finalis, also der Finalität, den eindeutigen Vorrang zugewiesen.
Während die Naturwissenschaft sich auf die Naturerklärung aus Wirkursächlichkeit, das heißt auf die Kausalität der mathematisch erfassbaren Zusammenhänge von Beobachtungsdaten und Messresultaten beschränkt, wird bei der Zielursächlichkeit alle Bewegung durch die Finalität, die Kraft des Zieles, bestimmt, das als vorweggenommene Zukunft schon gegenwärtig wirkt.
Die Zielursächlichkeit bezeichnete Aristoteles als ganzheitsstiftenden Naturfaktor. Unter den Naturfaktoren räumte er der Seele den obersten Rang ein. Und die Seele ist der Kunst nicht fremd.
Kausalbezüge wirken aus der Vergangenheit, weil die Ursache der Wirkung vorangehen muss, Finalbezüge aber aus der Zukunft in die Gegenwart. Kausalität und Finalität sind zwei Pole ein und derselben Sache, nämlich der Ur-Sache. In der Welterklärung sind sie als unversöhnliche Standpunkte etabliert.
Leibniz hat in seiner Monadenlehre von der Unteilbarkeit des Kosmos versucht, sie zu versöhnen. Es sei nur unsere "faule Vernunft", sagte Kant, die uns daran hindere, sie zusammenzuführen. Hinter alledem verbirgt sich der Gegensatz von Materialismus und Idealismus, von Physik und Metaphysik, der Gegensatz zwischen der rationalen Aufklärung und der Romantik.
So ist das Fragment, das Unvollendete, das die fundamentale Substanz im Schaffen des Keramikers Robert Sturm darstellte, das mit der Vieldeutigkeit liebäugelnde Denken des Romantikers.
Das Fragment weist aber auch noch auf einen weiteren Gegensatz hin, der sich in der europäischen Keramik auftut, sofern sie der Polarität zwischen Japan und den USA ausgesetzt ist, nämlich auf den Gegensatz zwischen Intellektualismus und Spiritualismus.
Intellektualismus heißt die Theorie, wonach nur die Vernunft als Quelle des Erkennens gilt. So jedenfalls lautet die Definition in Deutschland. Führende Keramiker der USA, wie Garth Clark, fordern die Intellektualisierung und kritisieren die europäische Keramik, weil sie darin nicht weit genug fortgeschritten sei.
Gegen diese Intellektualisierung steht eine Spiritualität, die durch eine Rückkehr zu den Quellen gekennzeichnet ist. Diese Kunst ruht auf einer Art von religiösem Sinn, von dem Goethe sagte: „Die Natur verbirgt Gott – aber nicht jedem!“. Es ist eine aus vertiefter Innerlichkeit erwachsende Offenheit für die Natur und die Welt.
Sie erhält neue Nahrung durch den japanischen philosophischen Spiritualismus, der auf ein geistiges Prinzip zurückzuführen ist, das der Gelehrte und Priester Yoshida Kenko im 14.Jahrhundert in seiner Schrift "Tsurezure-gusa" (Allerlei aus müßigen Stunden) formulierte: "Alles immer vollkommen und in Ordnung halten zu wollen, ist die Art plumper Leute; gerade das Unvollständige ist fein."
Das alles wirft ein Licht auf jene Keramik, die mit Ton und Feuer gestaltend umgeht und sich auf die freie Kunst mit ihrer unzähmbaren Produktivität zubewegt.
Sie sperrt sich, definiert zu werden. Nietzsche hat die Darstellung des künstlerischen Schaffens mit mathematischen Begriffen strikt abgelehnt. Selbst zur Musik, von der man noch am ehesten eine Beziehung zur Mathematik annimmt, sagt Nietzsche: "Wie absurd wäre ein solche `wissenschaftliche Abschätzung´. Was hätte man von der Musik begriffen, verstanden, erkannt? Nichts!"
Die Philosophie in der schöpferischen Gestaltung
Die Keramik als schöpferisch gestaltende Tätigkeit kann aus dem Kopf oder spontan, wie es heißt "aus dem Bauch", kommen und mehr oder weniger technologisch oder künstlerisch erfinderisch sein.
Dabei wird einem im Schaffensdrang kaum jemals bewusst, dass damit Anschauungen erfüllt werden, die in philosophischen Positionen begründet sind.
Der Einzelne wird sich je nach seiner Grundeinstellung darin wieder finden.
Die unter den Keramikern in Deutschland, Frankreich, England, Korea und Japan am weitesten verbreitete Haltung entspricht dem philosophischem Naturalismus, der bevorzugt das Alltägliche darstellt und die Stoffgebundenheit alles Geistigen emphatisch betont.
Das Natürliche gilt als das schlechthin verpflichtende Vorbild. Die Bedeutung der naturalistischen Darstellung liegt in der Erschließung neuer äußerer und seelischer Wirklichkeitsbereiche und geht mit der Verfeinerung der darstellerischen Mittel einher.
Das ist die Logik, Ästhetik und Moral der traditionsbewussten, aus dem Handwerk kommenden und auch der von Japan beeinflussten Keramik. Das war in der jüngeren Geschichte der Keramik die Position des Bernard Leach in seiner Auseinandersetzung mit Peter Voulkos 1952 über den Weg, den die Keramik gehen soll.
Der Mensch selbst ist für den Naturalismus ein natürliches Produkt im Kräftespiel zwischen Erbe, Umwelt und geschichtlicher Lage.
Ganz anders die Auffassung des philosophischen Idealismus. Er strebt im Grunde nach unwägbaren Werten und ist von der Kraft des Geistigen geprägt. Er zielt auf eine Idealisierung der Wirklichkeit, auf die Darstellung der in der Einbildungskraft schönen Natur. Schönheit wird mit Harmonie gleichgesetzt. Sie weist der Kunst die Aufgabe zu, die höchste Schönheit sichtbar zu machen.
Das ist einerseits die Position des Kunsthandwerkers als eines dekorativen Künstlers, andererseits ist es auch die Grundposition der nur aus Ideen kommenden Kunstauffassungen – aus Ideen, die kraft des Geistes irgendwo jenseits der Natur existieren.
Diese Keramik ist gleichgültig gegenüber dem Gegenstand und auf den Eindruck von Licht und Farbe bedacht, ist also impressionistisch. Das gilt auch für die "Kunstglasur" bei einer Keramik, die vor allem in Frankreich und Deutschland zu finden ist.
Philosophisch kommt die idealistische Position dem "objektivierten Geist" am nächsten.
Das Bewusstsein ist nicht, wie im Naturalismus, eine Folge des materiellen Seins, sondern die Ausbeute aller Erkenntnismöglichkeiten.
Die kulturelle Entwicklung ergibt sich nicht, wie beim Naturalismus, als Sonderfall der natürlichen Selektion des jeweils Stärkeren, sondern aus den treibenden Kräften von Wertideen. Oberste Werte für jedes Werturteil sind die geistigen Werte, zu denen die Einsicht gehört, nicht die Befriedigung materieller Bedürfnisse wie beim Naturalismus.
Und schließlich die Metaphysik, das Übersinnliche, die mögliche Wirklichkeit, die prinzipiell unerfahrbar bleibt, die (seit Aristoteles) die sinnliche Wahrnehmung als unzureichend für die Erkenntnis der Wirklichkeit ansieht, sich ihrer aber in der allegorischen Darstellung bedient.
Dazu gehört die Symbolhaftigkeit, die durch Zeichen eine Botschaft vermittelt und die mit der Psychoanalyse in Verbindung steht. Sie kann auch das Hässliche mit einschließen.
Das Erkenntnisinteresse der Metaphysik geht über die Natur hinaus. In ihr gelangt die menschliche Vernunft an ihre Grenzen, und da beschäftigt sie sich mit sich selbst. Aber sie findet auch Zusammenhänge.
Die Vernunft hat (nach Kants "Kritik der reinen Vernunft") ein praktisches Interesse an Freiheit, Gott, Unsterblichkeit und an der Seele. Daher die Verbindung zur Psychologie als Seelenkunde.
Die metaphysische Position nimmt nur die freie Kunst ein, aber sie ist auch so frei, sich der anderen Ausdrucksmittel zu bedienen.
In der Keramik ist die expressionistisch-surrealistische, abstrakte Position bei Keramiken dänischer, flämischer und niederländischer, von der Cobra-Gruppe beeinflusster oder ihr zugehöriger Künstler zu finden, die auch Keramiker in Deutschland, Italien und Spanien beeinflussten. Ihre Arbeiten sind spontan, tachistisch, ohne eine vom Verstand konstruierte Gestaltung.
Diese drei philosophischen Kategorien stehen in der Keramik in einem Entwicklungszusammenhang.
Ursprünglich hatte jede der drei Kategorien von Kunst ihren Gebrauchswert in der Magie, später einen profanen Gebrauchs- und Sammelwert und schließlich einen Ausstellungswert, der zur künstlerischen Selbstdarstellung dient mit jener Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter, die Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" als ein "Wohlgefallen ohne Interesse" bezeichnete.
Das ist die Schwierigkeit, von einer solchen Kunst leben zu können. Hegel gab der Unbestimmtheit des Kunsterfolges einen positiven Aspekt, indem er erklärte, die Kunst fülle "unser höchstes Bedürfnis nach mehr aus" und bedürfe zu ihrer Rechtfertigung der Reflexion.
So können wir schließlich sagen: Ein avanciertes Bewusstsein bedeutet, dass der Keramiker sich in der Welt orientiert, in der er sich gegenwärtig bewegt.
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